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Walter Salles über seinen Film «I’M STILL HERE»

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Als ich "I'm Still Here" von Marcelo Rubens Paiva zum ersten Mal las, war ich tief bewegt. Zum ersten Mal wurde die Geschichte der desaparecidos (der Verschwundenen), der Menschen, die von der brasilianischen Diktatur aus ihrem Leben gerissen wurden, aus der Perspektive der Zurückgebliebenen erzählt. Die Erfahrung einer Frau - Eunice Paiva, einer Mutter von fünf Kindern - erzählte einerseits eine Geschichte über die Bewältigung von Verlust und war andererseits ein Spiegelbild der Wunde, die eine ganze Nation erlitten hatte. Die Geschichte hatte zudem einen persönlichen Bezug für mich: Ich kannte diese Familie und war mit den Paiva-Kindern befreundet. Ihr Haus war tief in meiner Erinnerung verankert. Während der sieben Jahren, die wir mit der Produktion von I'M STILL HERE verbrachten, kam das Leben in Brasilien dieser Vergangenheit gefährlich nahe - was es umso dringlicher machte, diese Geschichte zu erzählen.

Wie sind Sie auf diese Geschichte aufmerksam geworden? 

Ich habe die Familie Paiva – Rubens, Eunice und ihre fünf Kinder Veroca, Eliana, Nalu, Marcelo und Babiu – Ende der 60er Jahre kennen gelernt. Sie waren damals gerade nach Rio gezogen, wohin ich nach meinem fünfjährigen Auslandsaufenthalt zurückgekehrt war. Ich verbrachte einen Teil meiner Jugend in dem Haus, das im Mittelpunkt des Films steht. An diesem prägenden Ort entdeckte ich neue musikalische Einflüsse wie Tropicália, hörte leidenschaftliche Debatten über die politische Situation während der Diktatur und lernte Menschen kennen, die mich massgeblich beeinflussten. Genau wie das Kino weckte das Haus der Paivas in mir die Erkenntnis, dass die Welt sehr viel grösser war, als ich sie mir je vorgestellt hatte. 

 

Inwieweit folgt der Film dem Buch von Marcelo Paiva, der die Biografie seiner Mutter unter dem gleichen Titel „Ainda estou aqui“ veröffentlichte? Marcelo ist nicht nur Schriftsteller und Dramaturg, sondern auch Drehbuchautor; hat er an dem Film mitgearbeitet? 

Der Film entstand in erster Linie aus meiner persönlichen Verbindung zu dieser Geschichte: Das Verschwinden von Rubens war ein Schock, er war der erste Vater im Freundeskreis, der verschwand. Marcelo Rubens Paivas Buch über seine Eltern und die Geschichte der Rekonstruktion der Erinnerung seiner Mutter an ihre Familie hat mich tief bewegt. Das 2015 erschienene Buch war jedoch nicht der eigentliche Anstoss für meinen Wunsch, I’m Still Here zu produzieren. Die Nähe zur Familie, das Verständnis dafür, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit auf so unterschiedlichen Erinnerungsfragmenten derjenigen beruht, die diese Ereignisse erlebten – ich habe sehr lange über all diese Elemente nachgedacht, bevor ich mich vor sieben Jahren auf dieses Abenteuer einliess. Ausschlaggebend war schliesslich die Tatsache, dass Marcelo Paiva die Drehbucharbeit von Murilo Hauser und Heitor Lorega begleitete. Diese Zusammenarbeit war geprägt von Marcelos scharfsinnigem Verständnis, denn er ist selbst Schriftsteller und Drehbuchautor, aber auch von der Freiheit, die er uns bei der Adaption seines Buches liess. 

 

Welche Beziehung hatten Sie allgemein zu Eunice Paivas Familie? 

A: Eine meiner prägnantesten Erinnerungen an meine Jugend ist die an ein Haus, in dem die Türen und Fenster immer offenstanden und in dem sich Menschen unterschiedlichsten Alters mischten. In einem Land, in dem eine Diktatur herrschte, war das bemerkenswert. Für mich als Heranwachsenden war dieser Kontrast besonders eindrucksvoll. Mir wurde mit der Zeit klar, dass die Geschichte der Familie Paiva die Geschichte einer zerrütteten Sehnsucht nach einem Land war. In ihrem Haus konnte man die Energie der Ideale der frühen 60er Jahre in Brasilien spüren – Ideale, die im Wesentlichen auf Freiheit und Inklusion beruhten, wie sie zu dieser Zeit in vielen Teilen der Welt aufkamen, aber formuliert entsprechend unserer eigenen brasilianischen Identität. Es war die Zeit neuer brasilianischer Architektur mit Niemeyer und Lucio Costa, neuer Musik mit Caetano Veloso, Gal Costa und Gilberto Gil und der Cinema Novo Bewegung mit Nelson Pereira dos Santos und Glauber Rocha. Für die Familie Paiva war das Leben nach diesen Kriterien eine Form des Widerstands. Dieses mögliche Brasilien, dieses Projekt eines Landes, wurde durch die Militärdiktatur zerstört, die 1964 ein demokratisch gewähltes Regime stürzte und 21 Jahre lang andauerte. Der Mord an Rubens Paiva ist die direkte Folge dieser Ereignisse. 

 

Sie haben sich dafür entschieden, die Geschichte aus der Perspektive von Eunice Paiva zu erzählen. Warum? Wofür steht sie heute in Brasilien? 

Marcelo Paivas Buch lädt uns ein, diese Geschichte aus der Perspektive von Eunice zu betrachten. Im Mittelpunkt der Erzählung steht eine Frau, die sich neu erfinden musste, die ablehnte, was das Schicksal ihr auferlegt hatte, und die mit den patriarchalischen Fesseln der brasilianischen Familien brach. Eunice verkörpert in ihrer Zurückhaltung eine seltene Form des Widerstands. Das Buch und der Film sind eine Erzählung über die Rekonstruktion einer individuellen Erinnerung dieser Frau (die einer zerrütteten Familie), und gleichzeitig ein Versuch, die Erinnerung eines Landes – Brasiliens – zu rekonstruieren. Diese Überschneidung zwischen dem Persönlichen und dem Kollektiven ist einer der Gründe, warum ich diesen Film machen wollte. Das Bestreben der Familie Paiva erstreckte sich über 30 Jahre und überschnitt sich mit dem Kampf um die Wiederherstellung der Demokratie in Brasilien. 

 

Warum war es wichtig, dass der Film nicht nur in den 1970er Jahren spielt, sondern bis in die jüngste Vergangenheit reicht, mit mehreren Episoden, die dem zentralen Ereignis der Entführung von Rubens Paiva folgen? 

Zunächst einmal hat die Geschichte ihre eigene Zeitlinie, die ich respektieren wollte. Die verschiedenen Existenzen von Eunice und die langsame Rekonstruktion der familiären und kollektiven Erinnerung erstreckten sich über mehrere Jahrzehnte. Die Tatsache, dass ihre Kinder das Erbe weiterführen, macht I’m Still Here auch zu einem Film über das Thema der Überlieferung. Daher auch das Familienessen, in dem am Ende mehrere Generationen der Familie Paiva zusammenkommen. Diese Kreisstruktur schliesst auch ihre eigene politische Sphäre ein. Die Szene, in der die ältere Eunice, die ihr Gedächtnis verloren hat, das Foto ihres Mannes in einem Fernsehbericht wiedererkennt, ist nicht fiktiv. Es ist eine Tatsache, die in Marcelos Buch genau beschrieben wird. Fernanda Montenegro, die die ältere Eunice spielt, hatte dadurch die Möglichkeit, diesen Moment im Film noch einmal zu erleben.

 

Wer ist Fernanda Torres, die die Hauptrolle spielt?

Fernanda ist eine der herausragenden Schauspielerinnen ihrer Generation und ist seit Foreign Land, den Daniela Thomas und ich 1995 gemeinsam geschrieben und inszeniert haben, eine Partnerin. Ich liebe die Intelligenz ihrer Schauspielerei, die von ihrem tiefen Verständnis für ihre Charaktere herrührt. Ihr Mut, sich ohne Rückhalt in Rollen zu stürzen, ist bemerkenswert. Fernanda ist auch Schriftstellerin und eine wichtige Stimme in den politischen und kulturellen Debatten Brasiliens. I’m Still Here ist ein Film über eine Familie, geschaffen von einer Filmfamilie, bestehend aus Fernanda Torres und Fernanda Montenegro, Daniela Thomas, die den Film produzierten, und meiner Wenigkeit. Nun bekommt diese Familie Zuwachs durch neue Mitwirkende.

 

Wie kamen Sie auf die Idee, Super-8-Aufnahmen zu verwenden? 

A: Von Anfang an schien die Wahl von 35 mm und Super 8 organisch zur Geschichte zu passen. Super 8 vermittelt die Textur und Unvollkommenheit von Familienfilmen, an die wir uns dabei sofort erinnern. Ein einfaches Medium, das vor allem die Erinnerung wiedergibt. 35 mm liefert die Strukturen und die Körnung, die uns in eine andere Zeit versetzen, ohne die künstlich in digitale Bilder eingefügte Körnung. 

 

Welche Bedeutung hat dieser Film für das gegenwärtige Brasilien? 

Meine Generation erlebte das Kino nach 21 Jahren Militärdiktatur. Viele Geschichten konnten während dieser Jahre der Unterdrückung nicht erzählt werden. Es wäre logisch gewesen, sich mit ihnen zu beschäftigen, aber das Desaster der Regierung Collor Anfang der 1990er Jahre zwang uns, uns mit der unmittelbaren Realität eines Landes auseinanderzusetzen, das sich erneut in einer Krise befand. Daher schrieb ich Foreign Land und dann Central Station. Als die Rechtsextremen in Brasilien einige Jahre vor Bolsonaros Sieg an Fahrt gewannen, wurde deutlich, wie brüchig unsere Erinnerung an die Jahre der Militärdiktatur war. Die Aufarbeitung dieser Zeit schien unabdingbar, damit wir diese traumatische Vergangenheit besser verstehen können und die gleichen Fehler nicht wiederholen. In I’m Still Here dringt der Staat in das Herz einer Familie ein, entscheidet, wer lebt oder stirbt, und lässt einen Toten verschwinden. Im Jahr 2021 verleiht ein Präsident Ehrenmedaillen an Folterer aus dieser Zeit. Dieser Film, der vor den Bolsonaro-Jahren entstand, scheint leider nicht nur ein Film über eine vergangene Zeit zu sein, sondern auch ein Film über die Gefahren neuer Formen des Autoritarismus, die Brasilien und nicht zuletzt die ganze Welt bedrohen.