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IM GESPRÄCH MIT DER REGISSEURIN VON 20.000 ARTEN VON BIENEN

Estibaliz Urresola Solaguren hat einen Abschluss in Audiovisueller Kommunikation (UPV-Bilbao), Schnitttheorie (EICTV Cuba), einen Master in Filmregie und Filmwirtschaft ( ESCAC). Sie führte Regie bei den Kurzfilmen „Adri“ und „Ashes and Dust“ sowie bei dem abendfüllenden Dokumentarfilm „Paper Voices“, der in San Sebastián uraufgeführt wurde. Ihr neuester Kurzfilm „Chords“ wurde auf der Semaine de la Critique in Cannes uraufgeführt und hat mehrere nationale und internationale Preise gewonnen, darunter den Preis für den besten Kurzfilm bei den Forqué Awards. Im Februar 2023 wurde ihr erster Spielfilm 20.000 ARTEN VON BIENEN in der offiziellen Auswahl der Berlinale uraufgeführt.

Woher kommt diese Geschichte über ein Trans-Mädchen und war es eine Geschichte, die Sie schon lange im Kopf hatten?

Ich habe schon immer über Identität, Körper und Geschlecht sowie Familienbeziehungen nachgedacht und dies in meiner Arbeit zum Ausdruck gebracht. In meinen früheren Arbeiten habe ich immer wiederkehrende Fragen gestellt, wie zum Beispiel : Seit wann wissen wir, wer wir sind? Wie ist die Beziehung zwischen unserer Vorstellung von Identität und unserem Körper? Ist die Selbstidentität nur eine intime und persönliche Erfahrung oder wird sie von äußeren Blicken beeinflusst?

 

Warum wollten Sie über Transidentität sprechen, haben Sie einen Bezug zu diesem Thema oder war es für Sie bisher ein Fremdwort?

Die Geschlechtsidentität hat mich schon immer beschäftigt. Ich bin das fünfte von sechs Kindern, und die meisten von ihnen sind Mädchen. Ich fühlte immer einen Unterschied zwischen den Rollen, die mir zu Hause zugewiesen wurden, und dem Verhalten, das ich draußen haben sollte. Ich übte das Schwimmen im vom Alter von 6 bis 13 Jahren und trainierte täglich, trat in der Mädchenkategorie an und zog mich in den nach Geschlechtern getrennten Umkleideräumen um. Die sexuelle und die symbolische Andersartigkeit meines Körpers hat meinen Weg markiert von der Kindheit bis zur Pubertät. Da ich gerne Sport trieb, war ich die meiste Zeit meiner Kindheit von Jungen umgeben. Ich war sehr für Action, Wettbewerb und Spiele zu haben. Gleichzeitig fühlte ich mich nie zu dieser Gruppe zugehörig. Dieser Unterschied wurde noch größer, als ich ins Teenageralter kam und mein Körper sich veränderte. Die Geschichte des Films entspringt dem Bedürfnis, die Grenzen des starren Geschlechtersystems in Frage zu stellen. Es leugnet und bestraft gesellschaftlich die Zwischenzonen, die zwischen zwei Extremen existieren. Diese Verleugnung hat viel Leid hervorgebracht und tut es auch weiterhin. Es ist ein unbequemes Erbe, das im Film durch die Figur des Vaters und dessen Arbeit dargestellt wird und durch die Art und Weise, wie er männliche und weibliche Ideale wahrnimmt, sowie durch das Erbe seiner Werkstatt – ein Erbe, das Ane, obwohl sie die fortschrittlichste Figur im Film ist, nicht loswerden will.

 

Wie wurden Sie zu diesem Thema beraten und haben Sie während der Dreharbeiten mit Trans-Kindern und ihren Familien gearbeitet?

Ich setzte mich mit einer Vereinigung in Verbindung, die mich mit etwa zwanzig Familien mit Kindern zwischen 3 und 9 Jahren zusammenbrachte. Sie waren außerordentlich großzügig darin, ihre Intimität mit mir zu teilen. Es war ein sehr bereichernder Prozess, der mein Drehbuch förderte. Was mich am meisten beeindruckt hat, war, dass einige Familien mir sagten, es sei eine positive Erfahrung für sie gewesen und habe ihnen ermöglicht, sich auf neue Weise als Familie zu erkennen. Sie sahen es nicht als Problem, sondern als einen Prozess, der die Regeln, die für ihre Familien galten, beleuchtete. Er ermöglichte es ihnen, diese Regeln zu hinterfragen und sie wiederum hinterfragten ihre Beziehungen zu ihren Söhnen und Töchtern und ihre Rollen als Mütter und Väter sowie mit der Frage nach ihrer eigenen Identität. Schön fand ich auch, dass diese Familien nie die Worte “Transit” oder “Übergang” benutzten, um den Prozess zu beschreiben, den ihre transsexuellen Söhne und Töchter durchliefen. Im Gegenteil  – es war ihre eigene Wahrnehmung und die Wahrnehmung der Menschen um sie herum, die sich veränderten. Die Kinder hörten nie auf, das zu sein, was sie waren; vielmehr waren es die Anderen, die gezwungen waren, sich zu verändern und weiterzuentwickeln. Ich denke, das kann man in meinem Film wiederfinden.

Der Film handelt nicht nur von transsexueller Kindheit, sondern auch von vielen anderen Themen. Insbesondere geht es um das Gewicht familiärer, sozialer und kultureller Traditionen, mit denen wir unser ganzes Leben lang zurechtkommen müssen, um freie Individuen zu werden. Das ist ein grundlegender Punkt im Film. Es gibt die Sichtweise der Tochter, aber auch die ihrer Mutter, mit der ich mich aufgrund meiner persönlichen Erfahrung und der Generation, der ich angehöre, am meisten identifizieren kann. Der Film ist die gemeinsame Reise dieser beiden Protagonisten. Für mich ist die transsexuelle Kindheit nur ein weiterer Aspekt der menschlichen Vielfalt und der verschiedenen Lebensformen, die es auf der Welt gibt. Im Kontext des Films ist es das Thema der Trans-Kindheit, das die Familie in Bewegung setzt, Bindungen verändert und Verborgenes an die Oberfläche bringt, aber ich hatte nie die Absicht, einen Film zu machen, der nur über dieses Thema spricht, auch weil ich selbst keine Trans-Person bin und nicht im Namen dieser Gemeinschaft sprechen wollte. Ich war daran interessiert, die Frage der Identität in einem breiteren Rahmen zu behandeln und zu untersuchen, wie Familienbeziehungen uns auf unserem Weg zur Selbstbestimmung beeinflussen können.

 

Ist Ihr Film kritisch gegenüber der Institution Familie?

Wir sind soziale Tiere, die sich innerhalb einer Gruppe entwickeln. Die erste Gruppe ist immer unsere Familie. Dieser Hintergrund meißelt und formt uns, als wären wir die Skulpturen, an denen Ane arbeitet. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, absolut frei zu sein. Wir können nicht vermeiden, dass wir durch die Wahrnehmung der anderen konditioniert werden. Diese anderen Menschen sind unsere Eltern, unsere lokale Gemeinschaft, unsere Freundschaften, die Gesellschaft und ihre Institutionen sowie die Traditionen, die wir erben.

 

Woher kommt die Metapher der Bienenzucht und was symbolisiert sie im Film?

Im Bienenstock hat jede der Bienen eine bestimmte Aufgabe, die für das Funktionieren der Gruppe notwendig ist. Der Bienenstock ist jedoch mehr als die Summe seiner Individuen. Er ist ein lebendiger Organismus, und ich dachte, das sei im Hinblick auf das Thema des Films angemessen, weil es eine Spannung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft gibt. Der Bienenstock wird von voneinander abhängigen Individuen regiert, und gleichzeitig spielt jede Biene eine bestimmte Rolle in ihm. Für mich war das ein geeignetes Bild, um über Familienbeziehungen zu sprechen, wie sie im Film dargestellt werden. Darüber hinaus spielen Bienen und Bienenstöcke eine wichtige soziale und spirituelle Rolle im traditionellen baskischen Leben, dessen Kultur ich ebenfalls darstellen wollte – in der baskischen Kultur gilt die Biene als heiliges Tier.

 

Im Film findet ein stetiger Sprachwechsel zwischen baskisch und spanisch statt, obwohl das im modernen Kino nicht so üblich ist – warum haben Sie sich für diese Form entschieden?

Einen einsprachigen Film in einem solchen Umfeld zu drehen, wäre nicht angemessen gewesen, denn in der Realität, die ich beschreibe, wechseln die Menschen ganz natürlich von einer Sprache zur anderen, sogar innerhalb der gleichen Familie. Außerdem ist das Baskenland durch eine Grenze geteilt, die das Gebiet in zwei Hälften separiert. Diese Grenze stellt nicht nur eine geografische Trennung dar, sondern fungiert auch als mentale Barriere oder als Grenze, die die Protagonisten überschreiten müssen. Ökologische Studien besagen, dass die größte Artenvielfalt und der größte Reichtum an Flora und Fauna an geografischen Grenzen zu finden sind. Auch viele Sprachen koexistieren an diesen Orten, und sie sind Teil der Vielfalt der Identitäten und Kulturen, die ich zeigen wollte. Auch hier gibt es eine Art Binarität: eine hegemoniale Sprache repräsentiert die Norm, während die baskische Sprache die Alterität darstellt. Für mich war die Verwendung des Baskischen von grundlegender Bedeutung, weil es eine Sprache ist, deren Grammatik nicht geschlechtsspezifisch ist, und weil es für meine Figuren Sinn macht, da es ihnen die Möglichkeit bietet, sich zu befreien.

 

Der Film schwankt zwischen verschiedenen Rhythmen. Warum?

Die Geschichte beginnt sehr schnell, weil ich die Routine einer Familie mit drei Kindern darstellen wollte. Sie reflektiert über unser eiliges Alltagsleben, das uns daran hindert, die Situation vor uns genau zu betrachten. Diese Energie verschwindet, wenn wir in das Dorf kommen. Ich wollte ein langsames Tempo festlegen, das es mir ermöglicht, den einzelnen Figuren genauer zu folgen. Der Film funktioniert wie ein Spiegelspiel: Jeder Schritt, den eine Figur macht, hat Auswirkungen auf die Wege der anderen.

 

Haben Sie sich bewusst für eine naturalistische Ästhetik entschieden?

Ich wollte die Realität so natürlich wie möglich zeigen, damit der Betrachter nicht das Gefühl hat, Zeuge von etwas Künstlichem zu sein, sondern von einem fast normalen Leben. Dies führte zu weiteren ästhetischen Entscheidungen. So gibt es zum Beispiel keine extradiegetische Musik im Film. Die Musik kommt von den Figuren selbst, die sie in einem bestimmten Moment spielen, was mir auch erlaubt, sie zu charakterisieren. Ich habe viel mit natürlichem Licht gespielt und versucht, das natürliche Licht der Orte, durch die Cocó geht, so weit wie möglich zu nutzen. Und was die Kamera angeht, wollte ich nah an den Figuren sein und mit Nahaufnahmen in Kombination mit größeren Bildausschnitten arbeiten, um die Auswirkungen der Umgebung auf sie zu zeigen und den Zuschauern zu ermöglichen, sich in jede Figur hineinzuversetzen.

Um diese naturalistische Ästhetik zu erreichen, war das Wichtigste die Probenarbeit. Mehrere Monate lang haben wir Szenen geprobt, die nicht im Drehbuch standen, um die Beziehungen zwischen den Figuren zu entwickeln. Bei den ausgebildeten Schauspielern habe ich mich um Realismus und einen frischen Ton bemüht, auch wenn sie dem Drehbuch folgen mussten. Es war eine der größten Herausforderungen alle auf das gleiche Niveau zu bringen.

Wie haben Sie die Schauspieler gecastet? Haben Sie beim Schreiben der Rolle von „Ane“ an Patricia López Arnaiz gedacht, die eine der aufstrebenden Schauspielerinnen des spanischen Kinos ist?

Nicht wirklich. Ich war fest entschlossen, eine unbekannte Schauspielerin zu finden, um dem Zuschauer eine realistische Erfahrung zu bieten, damit er die Schauspielerin nicht erkennt, sondern einer “anonymen” Person folgt. Ich habe mich nach mehreren
baskischen Schauspielerinnen umgesehen, die ihren Durchbruch noch nicht geschafft hatten, was Patricia bereits geschafft hatte, als ich mit der Arbeit an dem Film begann. Aber ich habe sie schließlich vorsprechen lassen. Aufgrund des tiefen Verständnisses, das sie für das Drehbuch hatte, und der Gespräche, die wir führten, war es offensichtlich, dass wir sehr gut zusammenarbeiten würden. Wir waren in der Lage, uns zu verständigen, und das war für mich das Wichtigste.


Wie haben Sie die Schauspielerin gefunden, die Cocó spielt?

Ich habe etwa 500 Mädchen gesehen und lernte Sofía gleich zu Beginn des Castings kennen. Dort sah ich sofort eine der Rollen in ihr, nämlich die eines der Pool- Mädchen. Sie war großartig im Improvisieren, aber anfangs entsprach sie noch nicht meiner Vorstellung von Cocós Charakter. Erst am Ende des Prozesses wurde mir klar, dass ich ihr nie wirklich eine Chance gegeben hatte, Cocó zu spielen, und ich dachte, ich würde sie ein letztes Mal vorsprechen lassen. Ihr Vorsprechen war überwältigend. Sie war Cocó.

 

Beitragsbild: © Jens Koch