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FABIAN, UNSER ZEITGENOSSE

„DER WIND DREHT SICH“: DIESE WORTE, DIE EIN JUNGER MANN, DER SEINES LEBENS MÜDE IST, IN SEINEN ABSCHIEDSBRIEF SCHREIBT, SIND EINER VON ZWEI SÄTZEN, DIE JENE BERÜHMTE GESCHICHTE, DIE NUN IN DOMINIK GRAFS „FABIAN ODER DER GANG VOR DIE HUNDE“ NEU ERZÄHLT WIRD, GUT ZUSAMMENFASSEN. DEN ANDEREN SATZ LESEN WIR AUF EINEM WERBEPLAKAT, DAS UNS IN EIN PAAR SZENEN DES FILMES DISKRET ERMAHNT. DARAUF STEHT, UNHEILVERKÜNDEND: „LERNT SCHWIMMEN“.

Kästners Großstadtroman „Fabian“ oder – so Kästners ursprüngliche Titelidee – „Der Gang vor die Hunde“ erschien im Jahr 1931. Das Buch folgt Jakob Fabian, einem jungen Germanisten, so skeptisch wie menschenfreundlich, der zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts Berlin und sich selbst erkundet. Mit Fabian tauchen wir ein in die Exzesse des Nachtlebens der Stadt: eine Welt feiner Bordelle, extravaganter Künstlerateliers und illegaler Kneipen, in denen junge und nicht ganz so junge Männer und Frauen sich fiebrig ausleben, als gäbe es kein Morgen. Wir erleben den sozialen und politischen Zerfall, der sich kurz vor dem krachenden Ende der Weimarer Republik in Deutschland anbahnte: Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Polizisten, die zunehmende Arbeitslosigkeit, in die Fabian selbst bald hineinfällt, und den unaufhaltsamen Aufstieg des Nationalsozialismus. Auf seinem Weg durch diese turbulente Welt verliebt sich Fabian. Dadurch lernt er die Hoffnung kennen – aber auch die Enttäuschung. Er verliert einen guten Freund. Und er trifft immer wieder auf Zeichen der bevorstehenden Katastrophe: für Deutschland und ihn selbst.

Scharfsinnige und freche Satire, kritischer Gesellschaftsroman und große Tragödie zugleich – Kästners Buch ist ein hervorragendes Zeugnis seiner Zeit. Wenige Monate nach seiner Veröffentlichung hatte es sich bereits mehr als dreißigtausendmal verkauft. Aber es hätte auch dieser Zeit zum Opfer fallen können: gleich nach Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933 stand Kästners Name auf der langen Liste von Schriftstellern, deren Werke von den Nazis verbrannt wurden. Und doch hat „Fabian“ überlebt und bleibt einer der deutschen Lieblingsromane des 20. Jahrhunderts.

Jetzt, neunzig Jahre nach dem Erscheinen von Erich Kästners Klassiker, verleiht Dominik Graf „Fabian“ neues Leben. Die ganze Vitalität und Frechheit, ebenso aber die Tragik und Dringlichkeit, die dem Roman zugrunde liegen, kommen in Grafs Film zusammen. Da begegnen wir dem distanzierten Beobachter Jakob Fabian, herausragend gespielt von Tom Schilling. Bis zum Ende der Geschichte wird er sich dagegen wehren, sich dem immer grausameren Takt seiner Zeit anzupassen – zu lernen also, wie man darin „schwimmt“. Das wird zu seinem Verhängnis, bleibt aber auch bis zuletzt die Grundlage von Fabians Würde. Da ist seine aussichtslose Liebesgeschichte mit der von ihrem eigenen Pragmatismus gequälten Schauspielerin Cornelia (Saskia Rosendahl). Da ist der Freund Labude (Albrecht Schuch), der an seinem eigenen Idealismus, aber auch an den Lügen eines Nazi-Schergen, zerbricht.

Und da ist Berlin selbst. Das Tempo der Großstadt sowie die wachsende Spaltung der Gesellschaft, die Kästners Roman zum Ausdruck bringt, spiegelt Graf raffiniert wider. Er lässt filmische Collagen entstehen, mit neuen Bildern und anderen aus den dreißiger Jahren, die ein getriebenes Berlin in Schwarz-Weiß zeigen. An anderen Stellen des Filmes teilt sich der Bildschirm in parallellaufende Szenen auf, die uns an die visuellen Experimente des expressionistischen Kinos erinnern.

Vor allem aber bestehen die Originalität und die Relevanz des Filmes darin, wie Graf die Vielschichtigkeit der Schicksale und der Zeit selbst, von denen FABIAN handelt, weiterdenkt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft greifen ineinander. Wir sehen entstellte Gesichter aus dem Ersten Weltkrieg, dem Krieg also, der die Welt Kästners erst entstehen lassen hat. Oder wir treffen, zusammen mit Jakob, auf Männer mit braunen Hemden, schwarzen Lederstiefeln und dem Hakenkreuz am Arm: Diese Begegnungen sind umso beunruhigender, weil wir gegenwärtigen Zuschauer, im Unterschied zu den Figuren des Romans und seiner Verfilmung, ganz genau wissen, was bevorstand. Daran erinnern uns wiederum manche Spuren aus der Zukunft der Geschichte, wie etwa die goldenen Stolpersteine, die den Opfern des Nationalsozialismus gedenken – und die wir im Film plötzlich auf dem Bürgersteig entdecken. Auf diese Weise erkennen wir, während wir mit Fabian sein altes Berlin durchstreifen, immer wieder, auf einem Straßenschild, in einer U-Bahn-Station, sogar in den Gesten einer Nebenfigur, unser eigenes, heutiges Berlin wieder.

Dominik Grafs FABIAN lässt die erzählerische und emotionale Kraft von Kästners Roman vor unseren Augen neu entstehen. Aber damit hört es nicht auf. Grafs Film erscheint – wie auch seine Vorlage – in einer Zeit von sozialer Verunsicherung und politischen Spannungen. Und so erwischen wir uns im Laufe dieses brillanten und zeitgemäßen Filmes dabei, wie wir über unsere eigene Welt nachdenken und uns selbst fragen müssen: Was bedeutet es denn heute, schwimmen zu lernen?