Kann ein Film, der mit seiner Ästhetik die Zeit manipuliert, diesen intensiven Wirbel von Emotion und Leidenschaft vermitteln, der in einem Gemälde steckt? Mit diesem scheinbar unmöglichen Unterfangen fand sich Julian Schnabel bei VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT konfrontiert. Er wollte die Dinge einfangen, die in Filmen über Künstler oft nicht zu finden waren, und so eine unvergleichliche Vision der letzten Tage van Goghs schaffen. Der Film versucht eine andere Sicht auf ein Künstlerleben zu vermitteln, indem er den kreativen Schaffensakt eines Malers auf intime und tiefgreifende Weise nachbildet und nachempfindet: „Der van Gogh dieses Films entstand direkt aus meiner persönlichen Reaktion auf seine Bilder, und nicht auf Grundlage dessen, was andere über ihn geschrieben haben.“, so Schnabel. Aus dieser Überzeugung heraus begab sich Schnabel in Begleitung von Drehbuchautor Jean-Claude Carrière ins Musée d’Orsay in die Ausstellung „Van Gogh/Artaud: Der Selbstmörder durch die Gesellschaft”.
Jean-Claude Carrière ist ein berühmter französischer Drehbuchautor, Romancier und Schauspieler. Er ist bekannt für seine Zusammenarbeit mit Meisterregisseur Luis Buñuel (BELLE DE JOUR – SCHÖNE DES TAGES, DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOISIE) sowie für die Drehbücher zu DANTON, DIE WIEDERKEHR DES MARTIN GUERRE oder DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DES SEINS. 2014 erhielt Carrière für seine Arbeit als Drehbuchautor einen Ehren-Oscar®.
Als das Duo durch die 40 Gemälde der Ausstellung schlenderte, darunter „Selbstbildnis”, „Paul Gauguins Stuhl”, „Porträt des Dr. Gachet”, „Augustine Rouline“ und „Ein Paar Schuhe“, begannen sie über einen Film zu sprechen und die Idee bekam plötzlich ein unerwartetes Eigenleben. Carrière erinnert sich: „Für mich war es höchst interessant, dass ein Maler einen Film über das Leben eines Malers machen wollte.“ An diesem Nachmittag hatte Schnabel bereits ein erstes Gespür für die Struktur des geplanten Films:
„Jedes Gemälde, vor dem du stehst, sagt dir etwas. Aber nach 30 Gemälden wird diese Erfahrung noch umfassender. Sie wird zu einer Ansammlung all dieser verschiedenen Emotionen. Und genau diese Wirkung wollte ich mit diesem Film erreichen. Ich wollte ihn so strukturieren, dass sich alle Ereignisse von Vincents Leben in dieser Zeit verdichten und es sich so anfühlt, als würde sich seine ganze Geschichte in einem einzigen Moment abspielen.”
Mit dieser Ausgangsidee bekamen Schnabel und Carrière einen ersten Eindruck von der möglichen Gestalt des Films. „Wir fingen an, gemeinsam zu schreiben.“, so Carrière. „Aber wir hatten nie vor, eine klassische Biografie zu machen oder die üblichen Fragen zu beantworten. Wir fanden es vielmehr sehr interessant, wie sehr sich van Gogh in den letzten Jahren seines Lebens bewusst war, dass er eine neue Vision der Welt hatte und dass er nicht mehr wie andere Maler malte. Er brachte den Menschen eine neue Sichtweise, und genau diese wollten wir in dem Film zeigen.”
„Ich schaute mir also mit einem Maler einen anderen Maler an, nämlich van Gogh.“, so Carrière weiter. „Abgesehen von den paar Zeichnungen Artauds befand ich mich in Gesellschaft von Julian und van Gogh. An einem bestimmten Punkt ließ er mich vor einem der Selbstporträts stoppen – in ganz, ganz kurzem Abstand, vielleicht 20 Zentimeter. Er stand an der einen Seite des Gemäldes, ich auf der anderen, so dass wir zu dritt etwa einen halben Quadratmeter belegten. Seltsamerweise begann er dann die Maltechnik zu erläutern und vermied es die ganze Zeit, über den Porträtierten oder die Gefühle zu sprechen, die das Gemälde auslöste. Er sprach über Farbe, Technik und Struktur. Seine Bemerkungen waren so scharf und präzise, dass sie die Emotion, die in dem Gemälde steckten, nicht zerstörten, sondern erst richtig zum Leben erweckten. Es war so, als würde uns van Gogh zuhören. Es kam mir so vor, als würde ich sein Herz schlagen, ihn neben uns atmen hören, weil es ihn freute, was ein anderer Maler über ihn sagte.
Ich war 82 und ich hätte mir nie erträumen lassen, dass bei mir in dem Alter ein Gemälde noch solche Gefühle auslösen würde. Das habe ich natürlich Julian zu verdanken. Allein wäre ich vermutlich an diesen Bildern vorbeigegangen, ohne etwas zu bemerken. Das waren eben keine sozioästhetischen oder historischen Betrachtungen, und das wusste ich extrem zu schätzen. Hier kamen vermutlich auch meine Erfahrungen als Filmemacher zum Tragen. Denn für mich ist Technik eine Sprache: Keine Kamerabewegung kann unschuldig sein. Das Gleiche galt für van Goghs Selbstporträt. Wir standen eine ganz lange Zeit da. Und an dem Tag entdeckte ich, was man alles mit Malerei erreichen kann. Und das dank ganz einfacher, fast würde ich sagen, gewöhnlicher Beobachtungen: ‚Er hat diese Art von Pinsel, diese Sorte von Farbe benutzt. So fing er an, damit machte er weiter usw.‘ Es war wie die Geschichte einer Geburt, des Beginns eines Lebens.”
Julian Schnabels VAN GOGH – AN DER SCHWELLE ZUR EWIGKEIT stützt sich auf Briefe, Biografien, bekannte Legenden sowie unzählige historische Analysen. In seinem Kern ist der Film dennoch ein Werk purer Imagination, eine Ode an den künstlerischen Geist und an die lebensbestimmende Macht einer absoluten Überzeugung.
AUF DEM TORONTO INTERNATIONAL FILM FESTIVAL (TIFF) 2019 WURDE SCHNABEL ZU SEINER INSPIRATION ZUM FILM UND DER AUSEINANDERSETZUNG MIT VAN GOGHS KUNST BEFRAGT.