Jerry Rothwells Dokumentarfilm basiert auf Naoki Higashidas´ Buch „The Reason I Jump“ (deutscher Buchtitel: «Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann – Ein autistischer Junge erklärt seine Welt»). Der Autor selbst ist Autist und schrieb sein Buch im Alter von 12 Jahren. Er beschreibt in seinem autobiografischen Werk eine prachtvolle Fülle unterschiedlicher Realitätserfahrungen, die es grösstenteils nicht durch den Filter der neurotypischen Welt schaffen. Vieles darin bezieht sich jedoch auf die Erfahrungen eines noch jüngeren Kindes – auf die Anfänge, in denen er sich bewusst wird, dass er anders ist, dass er autistisch ist; auf seine Selbstwahrnehmung und die Bewertungen anderer. Doch Naokis bewegende Beschreibung eines Stroms an Gedanken, Gefühlen, Impulsen und Erinnerungen, der jede seiner Handlungen begleitet, machen uns begreiflich, dass „in einem autistischen Körper ein Geist lebt, der so neugierig, feinsinnig und komplex ist wie jeder andere auch“ (Vorwort von David Mitchell).
Naoki ist heute 25 Jahre alt und wollte nicht im Film erscheinen. Es war also sehr spannend, sich das Kind, über das er schreibt, als Geist vorzustellen, der uns durch den Film begleitet, erklärt der Regisseur. Er wollte das Gefühl evozieren, dass die Zitate aus dem Buch, die wir hören, von einem jungen Menschen stammen, der einen Prozess der Selbsterkenntnis durchläuft und der die Welt sehr bewusst wahrnimmt und zwar aufgrund und nicht trotz seines Autismus. Für einen Filmemacher bietet sich hier die Chance, die Möglichkeiten des Kinos voll auszuschöpfen, um diese intensive Sinneswelt, in der Bedeutung mit Hilfe von Tönen, Bildern, Assoziationen, aber auch Wörtern erzeugt wird, heraufzubeschwören.
Die Idee dazu hatten die Produzenten Stevie Lee und Jeremy Dear, Eltern eines autistischen Teenagers. Sie hatten Naoki Higashidas Buch gelesen, was zur Folge hatte, dass sie ihren Sohn mit ganz neuen Augen sahen. Sie wollten das Buch für den Film adaptieren. Als man mich als Regisseur anfragte, spürte ich sofort eine starke Affinität zu diesem Projekt. Autismus hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt – sowohl im erweiterten Familienkreis als auch in meiner Arbeit. Der Umgang der Gesellschaft mit nonverbalen Autisten hat mich immer schon gestört. Auch die Idee, dass es bezüglich der Wahrnehmung der Welt feine Unterschiede gibt, ist wichtig und sie besitzt eine enorme und solidaritätsfördernde Kraft, die uns dabei helfen kann, eine Welt mit mehr Inklusion zu schaffen.
Naokis Buch besteht aus Antworten zu 58 Fragen zum Autismus. Es hat keine Handlung und es treten neben Naoki und seiner Familie nur wenige andere Figuren auf. Es ist wunderschön geschrieben, doch die Idee einer Filmadaption brachte anfangs einige scheinbar unüberwindbare Hürden mit sich, besonders weil es keine Option war, Naoki selber zu filmen. Er wollte nicht vor die Kamera und zog es vor, dass sein Buch für sich alleinsteht. Der Film nimmt also das Buch als Ausgangspunkt und greift dessen Themen und Ideen auf. Am Ende war genau das seine Stärke und hat vielleicht zu einem ungewöhnlicheren Film geführt als das übliche themengeleitete Biopic. Mir schwebte vor, dass sich die Struktur des Films daraus ergab, dass Naokis Einsichten sich uns allmählich erschließen, während sich die alltägliche Welt anderer nonverbaler Autisten aus allen Teilen der Erde vor uns auftut. Naoki bezieht sich primär auf sich selbst und nicht auf „die Gesamtheit aller autistischen Menschen“. Dennoch geben seine Worte den Anstoß dazu, die Dinge, die wir auf der Leinwand sehen, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
Naoki erinnert sich an seine Kindheit, in der er sich mit riesigen Kommunikationshürden konfrontiert sah und einer permanenten Reizüberflutung aus Geräuschen, Bildern, intensiven Erinnerungen und willkürlichen Assoziationen und Impulsen ausgesetzt war. Im Buch gibt es ein paar Schlüsselideen bezüglich seiner sensorischen Welt, die immer wieder auftauchen. Diese haben wir für unseren Einsatz von Geräuschen und Bildern im Film als Ausgangspunkt genommen. Er beschreibt eine visuelle Welt, in der er zunächst die Details und erst danach das Gesamtbild erfasst und sich deshalb die Welt wie bei einem Puzzle Stück für Stück zusammensetzen muss. Naoki beschreibt außerdem seine Schwierigkeiten mit Sprache in seinem Buch sehr ausführlich. Er vergleicht sie mit einem Meer, das ihn wie ein kleines Boot in einem Sturm hin und her schleudert. Seine Buchstabentafel beispielsweise dient ihm als Hilfsmittel, um Wörter und Sätze „einzusperren“, die ihm ansonsten „davonflattern“ würden.
Ich hoffe, dass der Film dazu beiträgt, unsere Vorstellung von nonverbalen Autisten, die nicht auf unsere neurotypische Art kommunizieren, zu verändern. Weg von solch allzu simplen und schädigenden Kategorien wie „funktionsfähig“ oder „gering funktionsfähig“ und hin zu einem Verständnis der Konstellationen von Stärken und Herausforderungen, mit denen sich Menschen konfrontiert sehen. Ich habe das Gefühl, dass jeder von uns sich mit einigen Facetten davon selber identifizieren kann und dass diese Erkenntnis dabei helfen kann, sich solidarisch und unterstützend zu zeigen, und eine „autismusfreundlichere Welt“ zu erschaffen.